Projekt
Der Kaiserliche Reichshofrat
Der Reichshofrat (RHR) entwickelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts aus den Hofräten Karls V. und Ferdinands I. und bildete bis 1806 gemeinsam mit dem Reichskammergericht (RKG) die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich. In konkurrierender Gerichtsbarkeit mit dem RKG war er erstinstanzlich für Klagen wegen Land- und Religionsfriedensbruchs, Rechtsverweigerung bzw. -verzögerung sowie Verfahren gegen Reichsunmittelbare zuständig und fungierte als Appellationsinstanz gegen Urteile territorialer Gerichte (unter Berücksichtigung der „Privilegia de non appellando“).
Im Vergleich zum RKG verfügte der RHR jedoch sowohl geographisch als auch sachlich über einen größeren Zuständigkeitsbereich. Als Oberster Lehnshof und Hüter der kaiserlichen Reservatrechte fielen Privilegienbestätigungen und Standeserhöhungen in seine alleinige Kompetenz. Auch als politisches Beratungsgremium des Reichsoberhaupts spielte er – insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert – eine bedeutende Rolle. Ferner fielen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Ausnahme Savoyens die italienischen Gebiete des Reiches in die ausschließliche Zuständigkeit des RHR, der bis zur Einrichtung der österreichischen Hofkanzlei (1620) auch österreichische Angelegenheiten bearbeitete.
Verschiedene Faktoren, zu denen unter anderem eine besonders flexible Verfahrenspraxis zu rechnen ist, führten dazu, dass der jährliche Prozessanfall am RHR denjenigen des RKG seit dem 17. Jahrhundert immer deutlicher in den Schatten stellte. Vergleichende Analysen kamen zu dem Ergebnis, dass in den Jahren nach dem Regierungsantritt Kaiser Josephs I. (1705) vor dem RHR mehr als dreimal so viele Fälle verhandelt wurden wie am RKG. Vor diesem Hintergrund bildete der RHR zweifellos eine „zentrale Institution im Friedens- und Rechtssystem des Alten Reiches“ (Sabine Ullmann).
Der Bestand „Reichshofrat“ im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv
Mit dem Ende des Alten Reiches stellte auch der RHR im Jahr 1806 seine Arbeit ein. Im Gegensatz zur Wetzlarer Registratur des RKG wurden seine in mehr als drei Jahrhunderten entstandenen Akten – von Ausnahmen abgesehen – nicht auf die Nachfolgestaaten des Alten Reiches aufgeteilt, sondern verblieben in Wien, wo sie heute zu den „Reichsarchiven“ des Haus-, Hof- und Staatsarchivs zählen. Der nach dem Registraturprinzip aufgebaute Bestand „Reichshofrat“ besteht neben einem Fiskalarchiv und Verfassungsakten vor allem aus einer Lehens- und Gratial- sowie einer Judizialregistratur. Letztere enthält die eigentlichen Gerichtsakten, besteht aus insgesamt elf verschiedenen Serien und summiert sich schätzungsweise auf 70.000 bis 80.000 Verzeichnungseinheiten.
Dieses auch im Vergleich zur Aktenüberlieferung anderer Reichsbehörden (Reichskanzlei, Mainzer Erzkanzlerarchiv u. a.) überaus beeindruckende Quellenkorpus enthält nach gegenwärtigem Kenntnisstand Akten zu 18 Staaten des heutigen Europa, nämlich Deutschland, Österreich, Frankreich, der Schweiz, Dänemark, Belgien, den Niederlanden, Schweden, Italien, Litauen, Polen, Tschechien, Großbritannien, Liechtenstein, Luxemburg, Russland, Irland und Spanien. Nicht minder beeindruckend ist die in den Akten entgegentretende thematische Vielfalt. Es findet sich kaum ein Bereich der Rechtsgeschichte und der allgemeinen Frühneuzeitforschung, für den die Akten des RHR nicht reichhaltiges Quellenmaterial bereithielten.
Die Neuverzeichnung
Ungeachtet des hohen Quellenwerts der RHR-Akten stehen die gewaltigen Dimensionen des Bestandes einer Verzeichnung im laufenden Dienstbetrieb des Haus-, Hof- und Staatsarchivs entgegen. Die Forschung sieht sich deshalb bis heute vor allem auf alphabetisch nach Klägernamen aufgebaute Findbehelfe verwiesen, wodurch thematisch orientierte Zugänge nur sehr bedingt möglich sind. Aufbauend auf Erfahrungen, die seit 1999 im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung geförderten Drittmittelprojekts gewonnen wurden, ist es der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in enger Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Österreichischen Staatsarchiv jedoch gelungen, 2006 ein Projekt zur Neuverzeichnung der RHR-Akten nach wissenschaftlichen Maßstäben zu initiieren.
Das von der wissenschaftlichen Kommission der Union der deutschen Akademien als besonders förderungswürdig eingeschätzte und auf einen Zeitraum von 18 Jahren angelegte Projekt zielt auf die Erschließung von etwa einem Drittel der reichshofrätlichen Judicialia ab. Zur Bearbeitung ausgewählt wurden mit den „Alten Prager Akten“ (APA) und den „Antiqua“ zwei Aktenserien, die vornehmlich die Tätigkeit des RHR im 16. und 17. Jahrhundert dokumentieren. Mit einem Umfang von 19 Regalmetern bzw. rund 5.000 Verzeichnungseinheiten zählen die APA zu den kleineren Serien des Bestands. Die Akten entstammen der Prager Filiale der Reichshofkanzlei und bilden schwerpunktmäßig die Regierungszeit des überwiegend an der Moldau residierenden Kaisers Rudolf II. (1576-1612) ab. Ihre Überführung nach Wien erfolgte in den Jahren 1771 und 1773. Die auf 135 Regalmetern lagernde Serie „Antiqua“ mit schätzungsweise 16.000 Verzeichnungseinheiten schließt chronologisch an die APA an und enthält vor allem Überlieferung des 17. Jahrhunderts. Da die Akten der Klägerbuchstaben A-G im späten 18. Jahrhundert größtenteils in die neu geschaffene Serie „Decisa“ umgelegt wurden, setzen die „Antiqua“ mit dem Klägerbuchstaben H ein.
Der Verzeichnung, für die ein Pensum von durchschnittlich 500 Akten pro Jahr und Bearbeiter vorgesehen ist, liegt ein Schema zugrunde, das sich an die „Frankfurter Grundsätze“ anlehnt, die 1978 durch einen von der Archivreferentenkonferenz eingesetzten Ausschuss zur Erschließung der RKG-Bestände in deutschen Staatsarchiven verabschiedet wurden. Fachlich betreut wird das Projekt durch eine Leitungskommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften, bestehend aus Prof. Dr. Anja Amend-Traut (Würzburg), Prof. Dr. Albrecht Cordes (Frankfurt am Main), Direktor Mag. Thomas Just (Wien), Prof. Dr. Peter Oestmann (Münster), Prof. Dr. Thomas Olechowski (Wien), Prof. em. Dr. Wolfgang Sellert (Göttingen) und als Vorsitzende Prof. Dr. Eva Schumann (Göttingen). Die Erschließungsergebnisse gelangen in kontinuierlicher Folge analog und digital zur Publikation: in gedruckten Inventarbänden und über das Archivinformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs.
Mehr zur Erschließung der Reichshofratsakten erfahren Sie hier:
Tobias Schenk: Ein Erschließungsprojekt für die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 63 (2010), S. 285-290 (zur Onlineversion).